Zeugnisse in der Tasche - Abiturienten verabschiedet

Mit einem Festgottesdienst und der feierlichen Übergabe der Zeugnisse endete am Freitag für mehr als 80 Schüler die Schulzeit am Elisabeth-Gymnasium. In einer bewegenden Rede gab Jan-Hendrik Olbertz als Vertreter der Elternschaft den "Kindern" viele nachdenkenswerte Worte auf den Weg in die Zukunft. Jeder solle bei der Auswahl der Berufsausbildung seine Stärken und Interessen berücksichtigen und nicht nur danach schauen, was später einmal am meisten Erfolg bei der Arbeitsplatzfindung bringen könnte.

[KRA, 13.03.2005]

Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz

 

 

Elternrede zum Abitur 2005 (Elisabeth-Gymnasium Halle, am 11.03.2005)

 

Anrede ..., Ihr seht, ich habe mich entschlossen, Euch zu duzen - im Plural mag das erlaubt sein (im Singular würde ich mich das nicht trauen). Aber ich rede ja als Elternvertreter, und welche Eltern siezen schon ihre Kinder? Also: Liebe Kinder! Ja, lacht nur - Ihr werdet immer die Kinder Eurer Eltern bleiben. Auch ich bin für meine Mutter bis heute eines ihrer Kinder. Wenn sie in der Nähe wäre, hätte sie mich noch gestern Abend gefragt, ob ich den Wecker richtig gestellt und meine Sache ordentlich beisammen hätte.

 

Mit dem Abi in der Tasche steht Ihr heute unmittelbar vor einer neuen Lebensetappe. Ihr verlasst die Schule, aber beendet keineswegs das Lernen. Es lässt sich auch gar nicht beenden. Bildung ist nämlich die gesellschaftliche Ressource für ein Land wie Deutschland, und zugleich das entscheidende individuelle Potenzial für Eure eigene Selbstbestimmung und -verwirklichung. Bildung lohnt sich auf der ganzen Linie! Beispielsweise ist das Risiko, arbeitslos zu werden, für einen Ungelernten viermal so groß wie für einen Akademiker. Und ein Hochschulabsolvent, so Bildungsforscher von der Universität Essen, verdient mehr als doppelt soviel wie ein Ungelernter. Bildung zahlt sich aber nicht nur im Arbeitsleben aus. Überhaupt sind das noch gar nicht die tieferen Gründe, die für Bildung sprechen. Bildung bedeutet Integration, sie eröffnet Handlungs- und Gestaltungsspielräume, sie schafft Anerkennung und persönliche Erfüllung - Bildung hilft, den eigenen Glücksanspruch im Leben einzulösen. Und am Rande: Wer über mehr Bildung verfügt, lebt angeblich auch länger. So habe ein Professor (sofern er nicht zu­gleich Minister ist) eine 9 Jahre höhere Lebenserwartung als ein Hilfsarbeiter.

 

Als junge Erwachsene müsst Ihr demnächst einige wichtige Entscheidungen treffen bzw. Weichen stellen. Auf einer dieser Weichen biegt Euer Weg heute ab. Es gehört durchaus Mut dazu, eine Richtung einzuschlagen, von der man noch nicht genau weiß, wohin sie führt. Aber das meiste hängt von Euch selbst ab, und deshalb könnt Ihr zuversichtlich sein.

 

Besonders schwierig wird sicher die Frage, was Ihr studieren oder welche Ausbildung Ihr antreten solltet. Aus der Studentenforschung weiß man, dass sich viele junge Leute bei dieser Entscheidung keineswegs immer auf die eigenen Interessen, Neigungen, Begabungen und Stärken berufen. Oft scheint ein anderes Kalkül wichtiger, nämlich das der Erwerbssicherheit. Die Angst vor diesem Risiko hält viele junge Leute von einem Hochschulstudium ab. Lieber "kleine Brötchen backen", heißt es dann, als sich auf eine - und sei es noch so produktive - Ungewissheit einlassen. Dies ist aber ein kurzschlüssiger Beweggrund, denn bis heute gibt es kaum eine verlässlichere Option auf die Zukunft als eine Hochschulausbildung! Ich möchte Euch daher ermutigen, die Entscheidung zu allererst nach Euern Interessen, Euern Stärken und Neigungen zu treffen. Wählt aus, wozu Ihr wirklich Lust habt, was euch interessiert und fasziniert. Denn dann ist Euch am ehesten Erfolg gewiss, dann geht Ihr motiviert und mit Engagement an die Dinge heran. Wenn man nur möglichst schnell in "trockene Tücher" will, wird der Arbeitsmarkt eher zu einem Risiko, denn gefragt sind gerade dort persönlicher Einsatz, Munterkeit und Flexibilität. Außerdem ändert sich dieser Markt sehr schnell. Berufe, die man heute für "sicher" hält, können schon morgen gar nicht mehr existieren. Kreativität, Begeisterung und Interesse dagegen kennen keine Rezession.

 

Zudem gibt es heute kaum mehr ein Berufsbild, das die Möglichkeit bietet, sich vorab mit Kompe­tenzen zu versehen, die für ein ganzes Berufsleben ausreichen. Beobachtet mal Euern Schornsteinfeger. Man mag kaum noch glauben, dass dieser High-Tech-Ingenieur mit weißem Kragen, Laptop und Messsonde in der Hand noch Glück bringen soll, wenn man ihn berührt - kaum ein traditionelles Attribut seiner Profession ist geblieben. Das hat Konsequenzen für die Ausbildung. An die Stel­le des Erwerbs addierbaren Wissens ist die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen getreten. Man kann nicht mehr "fertiges" Know how erwerben, sondern muss exemplarisch das Werden von Wissen, also Methoden erlernen, oder anders gesagt: das Lernen lernen. Mit dem Schritt vom Belehrtwerden zum Selberlernen wird Euch also künftig nicht mehr erklärt, was Ihr zu lernen habt, sondern allenfalls wie Ihr lernen sollt. Vieles müsst Ihr künftig selbst entscheiden. Der "wahrhaft wissen­schaftliche Geist" ist "im Zwange nicht zu erregen", wusste schon vor rund 200 Jahren Friedrich Daniel Schleiermacher. Gewiss könne man unter strenger Aufsicht und Kontrolle u.U. mehr lernen, aber weniger erkennen, so der große Philosoph.

 

Endlich als Erwachsene behandelt zu werden, heißt auch, mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Nicht ohne Grund steckt das Wort "Antwort" darin. Im römischen Recht hieß Verantwortung, vor Gericht (im übertragenen Sinne aber vor allem vor sich selbst) Antwort auf die Frage zu geben, ob das eigene Tun in Übereinstimmung mit dem war, was für die Allgemeinheit, der man selbst angehört, gut und richtig ist. Aber versteht mich nicht falsch: Die Gesellschaft braucht Euch nicht um ihrer selbst willen, sondern um Euretwillen. Mit anderen Worten: Ihr selbst braucht dieses Gebrauchtwerden, um zu erleben, dass die Chancen und das Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben ganz real sind, wenn man sich in diesen Zusammenhang bewusst hineinstellt. Nur so könnt Ihr  herausfinden, wozu Ihr da seid, worin das Woher und Wohin Eures Lebens auf dieser Erde besteht.

 

Mit dem Abschied von der Schule, der also alles andere als ein Abschied vom Lernen ist, ist ein enormer Gewinn an Freiheit verbunden. Wenn ich jetzt darüber rede, dann nicht, um Euch diese Freiheit zu vermiesen, sondern weil ich Euch zeigen will, unter welchen Voraussetzungen wirkliche Freiheit daraus werden kann. Im Alltag denken wir oft, Freiheit sei immer Freiheit von etwas, endlich müssten wir etwas nicht mehr tun, zu dem wir vorher gezwungen waren. In Wirklichkeit ist Freiheit aber Freiheit zu etwas, und diese auf Vernunft und Einsicht verpflichtete Freiheit gilt auch für das Lernen. Der Schauspieler Curt Goetz hat ganz recht, wenn er sagt: "Wer seine Talente als Gaben betrachtet und nicht als Aufgaben, ist ihrer nicht wert".

 

Gleich haltet Ihr Eure Abizeugnisse in der Hand. Als ich mir die Bilanz meiner Tochter Henriette angesehen habe (mit ihrer Erlaubnis darf ich das heute sagen), ist mir erst mal klar geworden, dass sie uns offenbar jahrelang nur die Noten in Musik und Kunst gezeigt hat. Natürlich ist das Abizeugnis wichtig, aber es ist auch nicht "die Welt". Deshalb den weniger Erfolgreichen zum Trost: Jeder kann etwas anderes besonders gut, niemand kann alles und keiner kann nichts. Die besten Lehrer übrigens sind diejenigen, die das bemerken und auch jene Kinder bzw. jungen Leute aufrecht durch das System führen, für die es nicht gemacht scheint. Ich selbst war auch so ein Schüler - richtig loslegen konnte ich erst, als ich das Labyrinth Schule verlassen, meine eigenen Schwerpunkte setzen, meinen Weg selbst bestimmen durfte. Euer Rückblick auf die Schulzeit, auch wenn sie nun definitiv zu Ende ist, wird sich im Verlaufe Eures Lebens übrigens noch mehrfach ändern, vieles wird sich klären oder ganz neu darstellen. Am Ende bleibt vor allem das Gute im Bewusst­sein, und je älter Ihr werdet, desto mehr werdet Ihr in der Erinnerung davon entdecken.

 

Euern Lehrerinnen und Lehrern gebührt heute besonderer Dank, die es sowohl im Allgemeinen als auch mit Euch im Speziellen nicht immer leicht gehabt haben. Wir begegnen ja manchmal nicht immer freundlichen Wahrnehmungen des Lehrerberufs. Berthold Brecht z.B. ist es nach eigenem Bekunden "während seines 9jährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium nicht gelungen, seine Lehrer wesentlich zu fördern." Ich hoffe, es ist Euch nie weis gemacht worden, die Schule sei dazu da sei, Euch "auf das Leben" vorzubereiten. Ihr habt hier doch gelebt; also war die Schule gut beraten, an Euer Leben, an Eure Erfahrungen, Hoffnungen, Wünsche anzuknüpfen und sich nicht auf irgendeine ferne Zukunft zu verlegen. "Der Mensch wird geboren, um zu leben und nicht etwa, um sich auf das Leben vorzubereiten", sagt ganz richtig der russische Dichter Boris Pasternack. Ich denke, diesem Grundsatz ist gerade das Elisabeth-Gymnasium immer gefolgt.

 

Den Eltern wiederum wird heute wieder bewusst, wie die Zeit rast, auch wenn Euch Schülern der Endspurt in der Oberstufe wie eine Ewigkeit vorgekommen sein wird. Das Wort 'Abitur' bezeichnet einen Abgang, zugleich aber auch einen als Aufbruch in etwas Neues. Der "Abiturus" ist der, der weggehen wird. Nicht nur die Schule, auch wir Eltern lassen Euch jetzt ziehen. Von Euern Müttern habt ihr die Muttersprache mit auf den Weg bekommen, von den Vätern die Heimat, Eure Wurzeln, das Vaterland ... Sie werden sich weiter einmischen und Euch mehr oder weniger gute Ratschläge geben - so sind Eltern eben, und sie sind so, weil Ihr ihnen wichtig seid. Wir sind stolz auf Euch und trauen Euch etwas zu. Wir werden trotzdem immer Angst um Euch haben, auch wenn Euch das auf die Nerven geht. Aber ich möchte nicht wissen, wie schlecht es Euch ginge, würdet Ihr diese Aufmerksamkeit, diese Fürsorge nicht empfinden.

 

Euern Eltern wird es weh ums Herz werden, wenn sie künftig in Eure leeren Kinderzimmer schauen. Sie werden Euch vom Bahnhof abholen, wenn Ihr nach Hause kommt, und sie werden sich schwer tun, Euch wieder hinzubringen. Sie werden Eure Wäschepakete von der Post holen, Euch anrufen und immerfort wissen wollen, ob es Euch gut geht. Das müsst Ihr ertragen - und ich sage Euch: Es geht schneller als Ihr denkt, dass Ihr in derselben Lage seid ...

 

Ich wünsche Euch nun im Namen aller Eltern eine erfolgreiche, interessante, erlebnisreiche und ergiebige Studien- oder Ausbildungszeit. Stillt Euern Wissensdurst, engagiert Euch, erkundet neue Aufenthaltsorte und Lebenssphären, reist in der Welt herum, aber kehrt auch immer wieder zu Euren Wurzeln zurück. Und vergesst Eure Eltern und Eure Lehrer nicht, die Euch in ihren Gedanken und in Ihren Herzen immer begleiten werden. 

 



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